H. Bärtschi: Die industrielle Schweiz vom 18. ins 21. Jahrhundert

Cover
Titel
Die industrielle Schweiz vom 18. ins 21. Jahrhundert. Aufgebaut und ausverkauft


Autor(en)
Bärtschi, Hans-Peter
Erschienen
Baden 2011: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Lüpold

Wie der Titel andeutet, verfolgt das vorliegende Buch einen zweifachen Zweck: Es gibt einen Überblick über die Schweizer Industriegeschichte und befasst sich kritisch mit der Deindustrialisierung der Schweiz. Publiziert im Jahr 2011, hat das Buch wenig an Aktualität verloren.

Der Autor, Architekt sowie Technik- und Wirtschaftshistoriker, befasst sich seit Jahrzehnten mit der Schweizer Industriearchäologie und -kultur. Das Buch bildet eine grosse Zusammenfassung seines breiten Wissens über die Unternehmenslandschaft der Schweizer Industrie. Es ist reich illustriert mit Fotos von ehemaligen Fabriken und Industriedenkmälern, die vom Autor selbst oder aus seinem Dokumentationsarchiv stammen.

Als Kompendium der Industriegeschichte bietet das Buch einen ausgezeichneten und anschaulichen Überblick über die wichtigen Industriebranchen vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts. Die neun Kapitel behandeln folgende Wirtschaftszweige: Bergbau, Genussmittel, Textilien, Papier und Druck, Chemie und Pharma, Uhren und Apparate, Schwerindustrie, Energie sowie Verkehr. Unterabschnitte skizzieren die Geschichte zahlreicher Unternehmen. Grossunternehmen wie Sulzer oder Alusuisse sind ebenso vertreten wie kleinere und mittelgrosse Firmen, zum Beispiel die 1968 geschlossene Schokoladenfabrik Cima Norma im Tessin (S. 55). Das längste Kapitel mit dem Titel «Geplünderte Schwerindustrie » widmet sich der Metall-, Elektro- und Maschinenindustrie. Anmerkungen, eine Kurzbibliografie und ein Epilog (von Oliver Fahrni) runden das Buch ab. Den zweiten Zweck seines Buchs, die kritische Beschäftigung mit der Deindustrialisierung, erfüllt der Autor etwas weniger überzeugend. Die folgende Passage über die Waffenfabrik Oerlikon-Bührle zeigt exemplarisch das etwas pauschale Erzählmuster: «1980 erreichte [das] Unternehmen durch allerlei Aufkäufe als Holding mit 37 000 Beschäftigten den Zenit. In den 1990er-Jahren jagte eine Umstrukturierung die andere. 2000 hiess das Unternehmen mit nunmehr noch knapp 15 000 Beschäftigten Unaxis» (S. 194). Am Niedergang und an den Arbeitsplatzverlusten in diesem und in anderen Fällen waren gemäss Bärtschi Unternehmensleiter und Manager, Raider und neue Investoren sowie Finanzleute gleichermassen beteiligt.

Während Bärtschi die Umstrukturierungen, Fabrikschliessungen und Entlassungen detailliert beschreibt, bleiben die strukturellen Probleme, die zu den akuten Unternehmenskrisen und zur beklagten «Verscherbelung» der Industriekompetenz führten, unterbelichtet. Die Restrukturierungsversuche waren nicht der Anfang des Übels, sondern Reaktionen auf tieferliegende Probleme. Zweifellos gab es Geld- und Machtgier, Inkompetenz und Fehleinschätzungen, aber die Industrieunternehmen gerieten nicht von heute auf morgen in die Krise. Vielmehr wurden in den goldenen Zeiten der 1950er und 1960er Jahre Überkapazitäten aufgebaut, Kräfte verzettelt und Innovationen nicht gut genug vermarktet. Es wurden stille Reserven thesauriert, was die unterbewerteten Unternehmen zu Übernahmezielen machte. Der Autor weist an manchen Stellen auf solche Entwicklungen hin. In Erinnerung bleibt etwa der Hinweis, die Textilindustrie hätte mehr in Innovationen als in Maschinen investieren sollen (S. 86). Bärtschis Industriepanorama macht ausserdem klar, wie viele Branchen (von der Brauerei bis zur Herstellung von Stromzählern) von Subventionen und Kartellen profitierten. Als in den 1990er Jahren diese Schutzwälle wegfielen und gleichzeitig die internationale Konkurrenz stärker wurde, war manche Unternehmenskrise unvermeidlich.

Das Industriezeitalter war eine dynamische Zeit. Verschiedene von Bärtschis Fallbeispielen dokumentieren primär den Umbau des Industriesektors und nicht dessen Abbau: Viele Bergwerke kamen von Anfang an nie auf einen grünen Zweig und wurden schon bald wieder geschlossen. Oder die Textilindustrie als typische Vertreterin der «ersten industriellen Revolution» verlor bereits in der Zwischenkriegszeit massiv an Bedeutung. Bärtschi kommentiert hierzu selber, bis 1929 hätte sie «als Motor der Industrialisierung die Gesellschaft umgewälzt und andere Industriezweige initiiert» (S. 65). Dass aus verschwindenden Branchen neue, innovative Wirtschaftszweige hervorgegangen sind, dass sich die Schweizer Wirtschaft mit Erfolg immer wieder neu erfunden hat, das unterschätzt Bärtschi aufgrund seines Fokus auf die Industrie.

Die Deindustrialisierung bedeutete glücklicherweise nicht das Ende der Schweizer Wirtschaft. Denn im Dienstleistungssektor ist die Beschäftigung rasant gewachsen. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich das ebenfalls 2011 publizierte Buch Wirtschaftswunder Schweiz der beiden Ökonomen R. James Breiding und Gerhard Schwarz8 zur ergänzenden Lektüre. Die Autoren operieren ebenfalls auf der Mesoebene von zentralen Wirtschaftsbranchen und ihren Unternehmen. Sie behandeln aber auch Dienstleistungsbranchen, wie Tourismus, Banken, Logistik oder Architektur. Und sie deuten den Strukturwandel der Industrie positiver, etwa die Konzentration auf innovative Nischenprodukte wie Medizintechnik.

Während sich die Unternehmensgeschichte jahrzehntelang nur für Erfolgsgeschichten interessierte, ist es Bärtschi zu danken, dass er die Deindustrialisierung dokumentiert. Auch wenn ab und zu die Rede von der Re-Industrialisierung ist, setzt sich die von Bärtschi beschriebene Entwicklung seit dem Erscheinen des Buchs fort. Beispielsweise hat die Chemie Uetikon, die 2011 noch produzierte (S. 110), ihre Fabriktore 2016 ebenfalls geschlossen. Immerhin ist die absolute Zahl der Beschäftigten im Industriesektor in den letzten Jahren stabil geblieben.

Zitierweise:
Martin Lüpold: Rezension zu: Hans-Peter Bärtschi, Die industrielle Schweiz vom 18. ins 21. Jahrhundert. Aufgebaut und ausverkauft, Baden: Hier und Jetzt, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 475-477.
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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 475-477.
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